



Zum zweiter Berner Sozialgipfel
Hälfte / Moitié
Eine Vorschau: Am 22. August 2011 findet der 2. Berner Sozialgipfel statt. Er ist eine weitere Etappe in der Entwicklung einer umfassenden Armutspolitik im Kanton Bern.
Red./ Letzthin wollte SP-Nationalrätin Jacqueline Fehr einer Zeitung ein Papier als brandheisse News verkaufen und dafür von der Redaktion mit einem Interview belohnt werden. Der in der Politik und schon gar in einem Wahljahr durchaus nicht unübliche Vorgang machte fast mehr von sich reden, als der Inhalt des Papiers.
SP-Buhlen um den Mittelstand
Dabei ist aber das, was die SP darin vorschlägt, ein etwas seltsamer Knüller im laufenden Wahlkampf. „SP buhlt um den Mittelstand“, so die Schlagzeile im „Sonntag“. Kapitalgewinne und Vermögen besteuern, Mindestlöhne stabilisieren, Medikamentenpreise und Wohnungsmieten senken – das alles will die SP neuerdings für den Mittelstand tun. Ein starker Mittelstand sei der Angelpunkt einer solidarischen Gesellschaft, sagt Fehr im Interview. Und sie sagt auch noch: „Wir machen eine Politik für alle statt für wenige. Nehmen wir das ernst, dann sind die Reichen nicht die Ausländer der Linken.“ Eine Politik für alle – ja! Jetzt verstehen wir zwar endlich den Logozusatz der SP. Aber wieso es die SP zur Mitte drängt, warum ausgerechnet der Mittelstand die solidarische Gesellschaft verkörpern soll und weshalb weder die wachsende Armut noch die schamlose Reichtumsentwicklung in diesem Land von der SP genügend deutlich gemacht werden – das verstehen wir nicht.
Konsequente Sozialpolitik als Konstrast
Zum Glück buhlen nun nicht alle Genossinnen und Genossen zugunsten des Mittelstands. Im Kanton Bern etwa betreibt der Gesundheits- und Fürsorgedirektor , Philippe Perrenoud, eine bemerkenswert konsequente Sozialpolitik, die seiner politischen und beruflichen Herkunft gut ansteht – er ist Sozialdemokrat und Arzt. In seinem Sozialbericht 2010 über die Armut im Kanton Bern wird die Entwicklung der wirtschaftlichen Situation der Berner Bevölkerung mittels präziser Fakten erhoben. Die Ergebnisse sind ernüchternd:
▄ Das verfügbare Einkommen der einkommensschwächsten Haushalte ist von 2001 bis 2008 um rund 20% gesunken.
▄ Die Armuts- und Armutsgefährdungsquoten sind zwischen 2001 und 2008 von 10,8 auf 12,5% gestiegen.
▄ Haushalte von alleinerziehenden Frauen sind am stärksten armutsbetroffen.
▄ Das Armutsgefährdungsrisiko von sozialrentenunterstützten Haushalten ist zwischen 2001 und 2008 um fast 50% gestiegen.
▄ Je länger eine Person armutsgefährdet ist, desto geringer sind die Aussichten, dass sich ihre finanzielle Situation verbessert. Rund 40% von neu armutsgefährdeten Personen vermögen sich nach einem Jahr aus ihrer Situation zu lösen, bei 60% dieser Personen dauert die Gefährdung zwischen zwei bis zu fünf Jahren. Und für einige unter ihnen wird die Armut zur lebenslänglichen Situation.
Politik für alle
Der bernische Regierungsrat hat die Bekämpfung und Reduktion der Armut im Kanton als Gesamtaufgabe der Regierung erklärt. Armut wird nicht einfach als zentrales Problem der Sozialpolitik betrachtet. Sie soll vielmehr mithilfe von konkreten Massnahmen in den Bereichen der Bildungs-, Wirtschafts-, Gesundheits-, Familien- und natürlich der Sozialpolitik innerhalb von 10 Jahren halbiert werden.
Die Massnahmen sollen in zwei sogenannten Handlungsfeldern wirken: Jugendliche und junge Erwachsene sollen Finanz- und Sozialkompetenzen entwickeln und sie sollen die Übergänge zwischen Schule und Ausbildung sowie zwischen Ausbildung und Erwerbsleben erfolgreich meistern.
Am 2. Berner Sozialgipfel, zu dem Philippe Perrenoud auf den 22. August 2011 eingeladen hat, sollen von PolitikerInnen und Fachleuten diese bereichsübergreifende Sozialpolitik dargestellt und diskutiert werden. Gemäss dem Tagungsprogramm finden sich unter den Teilnehmenden auch Vertreterinnen von klassischen Mittelstandsparteien. Denn Armut verhindern und bekämpfen ist wirklich eine Politik für alle, weil wir alle etwas dazu beitragen können.