



Zum geplanten Rehabilitationsgesetz für administrativ versorgte Personen
Gina Rubeli
Hälfte / Moitié / Am 13. April 2011 reichte der damalige Nationalrat Paul Rechsteiner (SP/SG) eine parlamentarische Initiative ein, mit der er ein „Gesetz zur Rehabilitierung der administrativ Versorgten “ verlangte. Inzwischen hat der Vorstoss eine Vorstufe zur Gesetzgebung erreicht.
Rechsteiners Begehren lautete: „Es ist ein Gesetz zur Rehabilitierung der administrativ Versorgten zu erlassen. Der Erlass soll folgende Punkte regeln: Anerkennung des Unrechts, das den Betroffenen zugefügt wurde; Verpflichtung, die Vorgänge und ihre Folgen historisch aufarbeiten zu lassen; Gewährleistung eines uneingeschränkten Zugangs zu den Akten für die Betroffenen und die Regelung der Archivierung. Bei der Ausarbeitung und Umsetzung des Erlasses sind die Kantone einzubeziehen.“
Am 12. Oktober 2012 nahm die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates einen Vorentwurf zur Umsetzung der parlamentarischen Initiative mit 17:5 Stimmen an.
Gemäss Informationen aus dem Bundeshaus ist die Gesetzesvorlage für die nächste Sitzung der Kommission für Rechtsfragen traktandiert worden. Anschliessend hat der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme, dann kommt die Vorlage in den Nationalrat.
Macht ein solches Gesetz überhaupt Sinn?
Man kann sich schon fragen, was ein Gesetz taugt, das „Menschen Gerechtigkeit widerfahren“ lassen will, „die administrativ versorgt worden sind“ und ausdrücklich erklärt, dass dies damals „zu Unrecht erfolgt“ ist. Denn aus Artikel 4 des Entwurfs wird klar, was diese Beteuerungen wert sind: nichts. Jegliche finanziellen Ansprüche (Schadenersatz, Genugtuung oder sonstige finanzielle Leistungen) schliesst dasselbe Gesetz aus.
Paul Rechsteiner hätte besser gleich ein Entschädigungsgesetz für die Opfer von administrativen Zwangsmassnahmen verlangt. Ausser ein paar HistorikerInnen, die wiederum ein paar Jahre mit der Aufarbeitung eines traurigen Kapitels unserer Geschichte beschäftigt sein werden, nützt ein solches Gesetz niemandem. Denn nicht wahr: das Ganze ist noch nicht allzu lange her. Viele Opfer leben noch mitten unter uns.
Siehe Vorentwurf „Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen“:
Ein Kommentar von Gina Rubeli*
Dieser Vorentwurf zu einem Gesetz schliesst zwar Arbeitsplätze beschaffende Aufgaben (für Beamte, Historiker, Psychologen, Sozialpädagogen, Juristen) zur historischen Aufarbeitung ein, schliesst aber vor allem eine angemessene finanzielle Entschädigung der Opfer aus. Man verweigert so den Opfern die einzige in diesem Land ernstzunehmende Anerkennung, nämlich den Schadensersatz.
Schäbigkeit als nationale Tugend
In einem Land, das den internationalen Ruf geniesst, alles zu entschuldigen, wenn es um den finanziellen Ertrag geht. Ein Land, in dem Geld aller Werte Mass ist, dem sich auch Anstand, Menschlichkeit und Gerechtigkeit unterordnen müssen. In einem Land, das Tausende Kinder der „Unterschicht“ gequält und ausgenutzt hat, das sexuellen Missbrauch und sogar Totschlag toleriert hat, des schnöden Mammons wegen. Ein Land, in dem sich Schäbigkeit zur nationalen Tugend gemausert hat. Einem solchen Land gereicht dieses Rehabilitationsgesetz zur vollen Ehre.
Obwohl Grundgesetze im Kerngehalt über Jahrzehnte auf gröbste Art verletzt wurden, wo Folter und unmenschliche Behandlung zum Anstaltsalltag für Kinder gehörten und somit vor dem Grundgesetz theoretisch nicht einmal verjähren konnten. Nur theoretisch natürlich, denn einklagen können wir diese Rechte ja nicht. Das juristische Instrumentarium dazu fehlt.
Gegen Mehrheit in der Schweizer Bevölkerung
Dieser Vorentwurf für ein „Rehabilitationsgesetz“ ist eine schallende Ohrfeige an alle Betroffenen. Aber auch an jenen Teil der Schweizer Bevölkerung (laut noch nicht bestätigten Umfragen ca. 60-70 Prozent), der eine angemessene Entschädigung der Opfer befürwortet und unterstützt. Der Schweizer Bevölkerung ist es klar, dass diese Verbrechen an Schweizer Kindern begangen wurden und die sich deswegen verantwortlich fühlt. Aber auch jene Familien, die sich redlich bemühten ihnen anvertraute Kinder und Mündel, bestmöglich zu versorgen und ihnen Beistand geleistet haben sehen nun, dass ihr Verhalten gar keiner Anerkennung würdig ist. Denn dieser Gesetzesentwurf spottet der Opfer und schützt die Schuldigen vor finanziellen Forderungen. Dass Opfer noch jetzt unter prekären Verhältnissen leben, spielt da keine Rolle. Es spielt auch keine Rolle, dass die anderen Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen nicht in die Rehabilitation einbezogen werden. Die haben so etwas Offizielles anscheinend nicht verdient.
Kuhhandel zeichnet sich ab
Finanzielle Entschädigung wird im Vorentwurf für das Gesetz explizit ausgeschlossen. Vor allem der schweizerische Bauernverband macht diese Forderung zur Bedingung um dieser Art Rehabilitation zuzustimmen. Wieso gerade der schweizerische Bauernverband? Wo stehen unsere Landeskirchen?
Haben es die Betroffenen der berüchtigten Bauernschläue unseres Parlaments zu verdanken, dass dieser Vorentwurf für das Gesetz zeitgenau mit den Entschädigungsverhandlungen am „Runden Tisch“ fällt? Dieser Vorentwurf des Gesetzes ist für Schadensersatz-Verhandlungen die ideale Ausgangslage für unsere Regierung. Keine Finanz- oder Bankenlobby würde sich unter solchen Bedingungen auf Verhandlungen einlassen. Die Opfervertreter müssen sich fragen lassen, ob sie sich aus Naivität oder aus Complaisance auf diesen Kuhhandel eingelassen haben.
Oder bedeutet der Vorentwurf für das Gesetz einfach, dass die „nur“ administrativ Versorgten keine Entschädigung erhalten und so ein Keil zwischen die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen getrieben wird?
Abschliessend möchte ich darauf hinweisen, dass ausser der Pro Senectute und den privaten Gönnern niemand den Opfern konkrete Hilfe leistet. Die eingerichteten Anlaufstellen können nur darauf hinweisen, dass wir den Opferkriterien nicht entsprechen. Auch Anstand ist in der Schweiz überflüssige „Sensiblerei“.
* Gina Rubeli, zur Person
Hälfte / Moitié: Gina Rubeli hat den Jahrgang 1952. Schul- und Jugendzeit im St.Galler Rheintal. 1970 administrativ versorgt auf unbestimmte Zeit im Gefängnis Hindelbank. 1971 Entlassung aus dem Gefängnis wegen schlechter Führung. 1991-1995 Technische Ausbildung im graphischen Gewerbe. 2000-2010 Gesellschaftliches Kontrastprogramm in Kamerun. 2010 Anerkennung des Unrechts der administrativ Versorgten durch Bund und Kantone. 2010 Reintegrationsversuch in eine Gesellschaft, mit der sie sich immer weniger identifizieren kann. Als Schweizerbürgerin wäre Gina Rubeli froh, wenn wenigstens jene Werte, die unsere Verfassung garantieren, eingehalten und respektiert würden. Ihre Kritik an der schweizerischen Sozialpolitik hat sie unter anderem mit einem offenen Brief an Frau Bundesrätin Simonetta Sommaruga anlässlich der Gedenkfeier für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen kundgetan. Sommaruga antwortete Frau Rubeli. Wir publizierten den Briefwechsel.
Siehe:
http://haelfte.ch/index.php/newsletter-reader/items/Offener_Brief.html
http://haelfte.ch/index.php/newsletter-reader/items/Antwort_Simonetta_Sommaruga.html