



Psychische Gesundheitsschäden bei Erwerbslosen
Paul Ignaz Vogel
Kein Mensch kann ohne Anerkennung leben. Da aber unsere heutige Gesellschaft im herkömmlichen Arbeitsethos verfangen ist und bloss neoliberale Gewinnoptimierung anstrebt, geraten Erwerbslose ins psychische Abseits und in Depression. Eine Berner Studie geht den Folgen der Erwerbslosigkeit nach.
Die bisherige Mehrheits-Sozialpolitik auf der Stufe von Kantonen und der Eidgenossenschaft zielt in ihrer Praxis meist auf eine weitere Ausgrenzung der lohnlosen Menschen ab. PopulistInnen verlangen eine stetige Verstärkung der Sinnlosigkeitsrituale für die von Stellenlosigkeit und Armut Betroffenen. Mit zwecklosen Stellenbewerbungen und bürokratischen Schikanen können Menschen weiter erniedrigt, gequält und ausgegrenzt werden. Wobei ein sadistisches Moment in dieser Politik stets versteckt vorhanden erscheint. Das Schicksal der VerliererInnen im gesellschaftlichen Gewinn- und Mehrwertsprozess soll hervorgehoben, negativ öffentlich gemacht werden und abschreckend wirken. Damit doch niemand leichtfertig seine Lohnarbeit verliere, weil ja nur die Faulen und Tunichtguten nicht arbeiteten. Da sie das angeblich nicht wollen! Wie das so oft heisst.
Dahinter steht ein verfallenes Arbeitsethos von einst, das heute an Bedeutung verloren hat, weil die Lohnarbeit schwindet und der Glanz einer vergangenen Zeit mit Vollbeschäftigung verloren gegangen ist. Der Neoliberalismus hat uns eine weitgehend sozial ungerechte Gesellschaft geschaffen, in der nur das ökonomische Gewinnen eine Bedeutung hat. Der Verlust einer Arbeitsstelle und ein einzelnes Menschenschicksal findet in diesem gesellschaftlichen Umfeld und im ebenfalls neoliberal gewordenen Bewusstsein von Politik und Medien kaum mehr, meist aber keinen Platz.
Gemeinde Bern gibt gutes Beispiel
Nach Krisen und Fällen von faktischem Sozialhilfemissbrauch, die auch strafrechtlich geahndet werden mussten, legte im vergangenen Jahr der Gemeinderat Bern auf Antrag der damaligen Gemeinderätin Edith Olibet eine gesundheitspolitische Analyse zu den schädlichen Folgen der Erwerbslosigkeit und des gesellschaftlichen Druckes vor, der auf den Erwerbslosen lastet. Damit werden andere Werte gesetzt, jene, welche schon vor dem neoliberalen Dammbruch galten, von diesem jedoch weitgehend weggeschwemmt wurde: Es gilt das Schicksal eines jeden einzelnen Menschen, für das sich alle Menschen in der Gesellschaft einsetzen sollen. Werte wie Gesundheit und Wohlergehen des Individuums gehen vor dem Glück der egoistischen Bereicherung in einer Wirtschaft, die sich nur am ökonomischen Gewinn misst und jeden Stellenwert der gesellschaftlichen Verantwortung verneint.
Ein gesunder Geist und eine gesunde Seele in einem gesunden Körper. Ein sozialmedizinischer Ansatz, sozialwissenschaftlich konzipiert und mit empirischen Untersuchungen belegt, drängte sich auf, um diese humanistische Forderung zum Wohlergehen von Menschen in materieller Not zu durchdenken. Es stellte sich auch die Frage: Welches ist die Korrelation zwischen seelischer Gesundheit und materieller Existenzsicherung? Die im Auftrag der Gemeinde Bern verfasste Studie über die Gesundheit der sozialhilfebeziehenden Langzeit-Erwerbslosen* gibt darüber interessante Aufschlüsse, so dass Antworten auch der Politik gegeben werden können. Falls sich diese zu neuem Handeln veranlasst sieht und einem Sozialethos - statt dem verbrauchten und nicht mehr tragfähigen Arbeitsethos folgen will. Das Wollen ist aber auch eine Frage der politischen Mehrheiten in unserer Gesellschaft.
Leiden unter Fremdbestimmung
In der Berner Studie wird eingeschätzt, wie sehr eine Person selbst davon überzeugt ist, mit eigenem Handeln das Leben massgeblich zu bestimmen. In der Gesamtbevölkerung ist nur rund ein Fünftel der Menschen der Ansicht, sie könnten ihr Leben nicht selbst bestimmen, vier Fünftel sind demnach frohen Mutes und glauben, ihres eigenen Glückes Schmid zu sein. Gegenteiliges ist bei den befragten Sozialhilfe Beziehenden in der Gemeinde Bern festzustellen. Eine Mehrheit (fast drei Fünftel) von ihnen gehen davon aus, dass das Lebensschicksal nicht in ihren eigenen Händen
liegt. Dass sie fremdgesteuert werden. Besonders stark betroffen von der Fremdbestimmung fühlen sich Frauen, AusländerInnen sowie Personen mit mittleren Alter.
Ihre Persönlichkeit fühlen sich somit drei Fünftel der Befragten im Kern angegriffen. Die Überzeugung, das eigene Leben selbst gestalten zu können – oder eben nicht – hängt sehr stark mit dem individuellen Erleben von Gesundheit, der Lebensqualität ab. Mit anderen Worten: Diese Werte sind bei den von Sozialhilfe Betroffenen überwiegend schlecht. Dieser Zusammenhang tritt besonders beim Thema psychische Gesundheit zu Tage. Ebenfalls rund drei Fünftel der Befragten erkennen in ihrer Erwerbslosigkeit nur ausschliesslich negative Folgen und eine hohe psychische Belas-
tung.
Depressionen als Folge der Erwerbslosigkeit
Die Berner Studie kommt zum Schluss: Aus Sicht der Armutsbetroffenen ist der seelische Schaden die wichtigste Folge der Erwerbslosigkeit. Trauer, Freudlosigkeit, mangelndes Selbstwertgefühl, Motivationsverlust sowie Zukunfts- und Existenzängste gehören zu den Symptomen. Diese Phänomene lassen sich klinisch ins Spektrum der depressiven Störungen einordnen.
Siehe auch Zusammenfassung der Studie:
http://haelfte.ch/index.php/newsletter-reader/items/Gesundheit_Sozialhilfe.html
* Lätsch, D., Pfiffner, R. & Wild-Näf, M. (2012). Die Gesundheit sozialhilfebeziehender Erwerbsloser in der Stadt Bern. Schlussbericht zuhanden des Auftraggebers (2. Aufl.). Bern: Berner Fachhochschule.