



Jagdszenen in den Niederungen
Paul Ignaz Vogel
Ein Sozialhilfeempfänger beschreitet den Rechtsweg und gewinnt in seiner Sache vor allen Instanzen unseres demokratischen Rechtsstaates. Ein Bericht, wie die Medien und die Öffentlichkeit auf einen beachtenswerten Bundesgerichtsentscheid reagieren und den Obsiegenden diffamieren und jagen.
Was war geschehen?
Laut Bundesgerichtsurteil bezog der 1990 geborene L. seit Juni 2008 Sozialhilfe der Gemeinde Berikon.
Am 3. August 2011 und am 5. September forderte die Gemeinde Berikon den Sozialhilfebezüger L. vergeblich zu einem Gespräch auf. Der Gemeinde teilte L. mit, dass er fortan nur noch schriftlich mit ihr verkehren wolle.
Die Gemeinderat Berikon verfügte, ab 30. September 2011 sei die materielle Hilfe für den Lebensunterhalt und die Miete wegen angeblich rechtsmissbräuchlichen Verhaltens einzustellen. Interessanterweise wurde jedoch die medizinische Grundversorgung als Nothilfe durch die Gemeinde aufrecht erhalten. Dagegen reichte L. beim Bezirksamt Beschwerde ein. Dieses verfügte, der Entscheid der Gemeinde Berikon auf Einstellung der Sozialhilfe sei aufzuheben. Wegen mangelnder Zusammenarbeit wurde der Grundbedarf II auf die Dauer von drei Monaten für L. nur teilweise eingestellt.
Mit Kanonen auf Spatzen geschossen
Die Gemeinde Berikon gab sich damit nicht zufrieden, entschloss sich zur Einsprache und zog den Fall weiter. Sie reichte beim Verwaltungsgericht des Kantons Aargau Beschwerde gegen die ihr nicht passenden Verfügung des Bezirksamtes ein. Doch auch das Verwaltungsgericht hiess den erstinstanzlichen Entscheid des Bezirksamtes gut. Darauf gelangte die Gemeinde ans Bundesgericht.
Am 22. November 2012 erliess die sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichtes ihr Urteil gegen die klagende Gemeinde Berikon und wies deren Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtes des Kantons Aargaus vollumfänglich ab, mit Kostenfolge für die Gemeinde Berikon.
In der Urteilsbegründung hielt das Bundesgericht fest: „Das Verwaltungsgericht hat daraus, wie schon das Bezirksamt Y. den Schluss gezogen, das unzuverlässige und unkooperative Verhalten des Beschwerdegegners rechtfertige Sanktionen, nicht aber eine Einstellung der Sozialhilfe wegen Rechtsmissbrauch“.
Was so kompliziert erscheint, kann mit der einfachen Feststellung umschrieben werden: Der Sozialhilfeempfänger, ein schwacher Mensch, hatte mit Unterstützung gekämpft, sich durchgesetzt und gewonnen. David gegen Goliath. Aber so was darf in der Schweiz von heute, mit ihrer aufgeheizten Stimmung, nicht mehr sein. Da liegen die Sympathien doch bei den Goliaths, den Erfolgreichen, den Mächtigen. Im sogenannt „gesunden Volksempfinden“ wird die Macht, werden die Mächtigen und Erfolgreichen bewundert. Null Sympathie und Verständnis für die Schwachen, geschweige
denn Solidarität.
Invalidenversicherung versus Sozialhilfe
Das Bundesgericht stellte in der Urteilsbegründung fest: „Nicht bestritten wird, dass der Beschwerdegegner (der Sozialhilfebezüger, PIV) sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet hat.“ Offenbar war gemäss Bundesgericht die IV nicht bereit, eine Rente zu zahlen, welche auch die Gemeindekasse Berikon ent- lastet hätte, sondern die IV prüfte nur eine berufliche Wiedereingliederung. Das landesweite Schwarzpeterspiel zwischen IV und Sozialhilfe ist bekannt und hat System, seitdem die eidgenössische Invalidenversicherung auf dem Buckel der Schwachen, der Gemeinden und Kantone mit ihrer Sozialhilfe sparen muss. Hier wird ein Politikum ersten Ranges deutlich. Arbeit statt Rente bedeutet auch oft eine nicht in dieser Form erwünschte, erzwungene Tätigkeit, kurzum Zwangsarbeit, die zusätzlich krank oder noch kränker machen kann. Sinnvolle Arbeit hat mit Freiheit, Freiwilligkeit, Rücksicht auf die eigene Gesundheit und Motivation zu tun.
Vererbte Armut und psychische Defizite
Zuhanden der IV hatte die Gemeinde Berikon gemeldet, dass aus den medizinischen Unterlagen über L. Hinweise auf eine krankhafte Veränderung der Wirbelsäule vorliegen, „ohne dass diese jedoch die Arbeitsfähigkeit in einer körperlich leichten, wechselbelastenden Tätigkeit beeinträchtigen würden“. Von psychischen Defiziten war nicht die Rede.
Der SonntagsBlick (SoBli) veröffentlichte am 24. Februar 2013 einen Artikel zu diesem Fall: In den Neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts fiel die Familie von L. in Armut und wurde abhängig von der Sozialhilfe, nachdem sich der Ernährervater davon gemacht hatte. L. wuchs somit in einer Armutssituation auf. Der SoBli berichtet auch, dass L. nach der Volksschule ein handwerkliches Praktikum begann. Damals meldeten sich Rückenprobleme an. Depressionen folgten. L. , offensichtlich antriebsschwach, mochte sich gemäss SoBli keine Lehrstelle suchen. Heute lebt L. zusam-
men mit seiner Mutter, die ebenfalls Sozialhilfe bezieht. Beide sehen sich als Opfer der Bürokratie und als von der Gemeinde gemobbt. L. leidet, wenn wir den Bericht des SoBli genau lesen, an vererbter Armut und Ausgrenzung von der Gemeinschaft.
Das Halali
Die Jagd konnte nun beginnen. Nachdem die regionalen Medien den Fall zuerst aufgegriffen hatten, heizte der SoBli die Stimmung im ganzen (deutschsprachigen) Land so richtig an. Im Titel hiess es: DER FRECHSTE SOZIALHILFEBEZÜGER / ER NARRT SEINE GEMEINDE / JETZT WIRD ER NOCH UNVERSCHÄMTER. L. wurde als Nichtstuer apostrophiert. Ihm wirft die Zeitung sogar vor, nicht untätig in seinem Schicksal verharrt, sondern sich gewehrt, den Rechtsweg beschritten zu haben: „Plötzlich wurde der arbeitsscheue Mann fleissig: Er ging rechtlich gegen die Verfügung (der Gemeinde, PIV) vor, kämpfte sich durch mehrere Instanzen und bis zum Bundesgericht – und gewann, wie die Gemeinde jetzt mitteilte.“ In einem redaktionellen Kommentar zum „renitenten Sozialhilfebezüger“ doppelte der SoBli nach: „Der junge Mann hat zwar streng nach Gesetz offenbar nichts Unrechtes getan. Richtig ist sein Handeln deshalb noch lange nicht.“ Das ist eine beängstigende Relativierung des Rechtswesens, der urteilenden Gerichte, der Unteilbarkeit von Gerechtigkeit. Im Zuge des allumfassenden Populismus werden grosse Schweizer Medien zu Instrumenten einer generellen Volksverhetzung.
Willkommenes Gift für eidgenössische Debatte
Auch Ruth Humbel, aargauische Nationalrätin der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) wollte von der Volksverhetzung profitieren, setzte sich auf die Seite der Mächtigen und outete sich mit unsachlichen Generalisierungen und populistischen Forderungen: „Wenn junge Leute zu faul sind, sich um ein eigenes Einkommen zu bemühen, muss das Konsequenzen haben.“ So liess sie sich vom SoBli zitieren. Die CVP-Nationalrätin verlangte, dass die anderen Kantone ihre Sozialhilfegesetze „so anpassen, dass man jungen renitenten Sozialhilfebezügern künftig Leistungen streichen kann“. Laut SoBli will sie sich auf eidgenössischer Ebene für härtere Sanktionsmöglichkeit einsetzen, wenn die kantonalen Unterschiede in den Sozialhilfegesetzen harmonisiert werden. Die strenge Frau, die gegen sogenannte renitente SozialhilfeempfängerInnen antreten möchte, gibt auf ihrer Website ihre Theorien bekannt: „Schnell und gern wird der CVP unterstellt, sie verstosse gegen christliche Werte. Bei näherer Betrachtung entlarvt sich dieser Vorwurf jedoch mehr als ein rhetorisches Schlagwort sozialromantischer Gesinnungsmoralisten denn als Befund einer tieferen theologischen Analyse.“
Während das Bundesgericht aus Gründen des Datenschutzes in seinem Urteil beide Konfliktparteien anonymisiert hatte, trat die involvierte Verliererpartei, die Gemeinde Berikon im SoBli an die Öffentlichkeit und erklärte sich: Die im Bundesgerichtsurteil anonymisierte „Gemeinde X“ sei die aargauische Gemeinde Berikon. Nochmals setzte diese, trotz des definitiven Bundesgerichtsurteils, gegen den obsiegenden Sozialhilfempfänger an. Jetzt waren alle Dämme geborsten, der richtige Name von L. wurde nun in dieser aufgeheizten Stimmung ebenfalls öffentlich gesucht. Es glich einer Ringfahndung, der Suche nach einem Verbrecher durch die Polizei.
Denunziation mit Kopfprämie
In die Lücke sprang der aargauische Grossrat und SVP-Fraktionspräsident Andreas Glarner und fand innert einer halben Stunde Name und Adresse des Sozialhilfebezügers heraus, wie die Regionalmedien (AZ) berichteten. In einem Lokalradio hatte er den Aufruf zur Denunziation erlassen und diese noch mit einer Bezahlung von Fr. 1‘000.- geschmiert. Der erste Denunziant, der sich meldete, verzichtete sogar auf die Kopfprämie. Sein Motiv sei die Empörung, so wie bei vielen Bürgern gewesen. Glarner plante, ein Flugblatt in der Gemeinde Berikon mit Name, Adresse, Telefonnummer des gejagten Sozialhilfebezügers L. herauszugeben, um diesen einerseits an den Pranger zu stellen, andererseits Arbeit für ihn bei den KMUS zu finden. Prinzip Meute auf der Jagd.
SVP-Grossrat Glarner stösst gewiss bei vielen PolitikerInnen, welche möglichst viele psychisch Kranke aus den Registern streichen möchten, auf Sympathie. Handfeste, sicht- und daher messbare Behinderung ist da viel rentabler, auch für den SVP-Sozialhilfe-Jäger. Denn Glarner besitzt die Firma Careproduct AG. Diese vertreibt Geräte, technische Hilfsmittel für körperlich Behinderte, Rollstühle, Rollatoren, Gehstöcke, Pflegebetten und allerlei Medizinalgeräte etc.. Die IV lässt grüssen.
Andreas Glarner gibt sich gottgläubig und ziert seine Website mit dem Spruch: „Herr, gib mir die Kraft, das zu ändern, was ich ändern kann, gib mir die Gelassenheit, dass zu ertragen, was ich nicht ändern kann und gib mir die Weisheit, das Eine vom Andern zu unterscheiden.“
Wer möchte zu dieser Jagdgeschichte Amen sagen?
Siehe auch:
Bundesgerichtsentscheid:
http://www.bger.ch/index/juridiction/jurisdiction-inherit-template/jurisdiction-
recht/jurisdiction-recht-urteile2000.htm
Geheimsache Sozialhilfe:
http://haelfte.ch/index.php/newsletter-reader/items/Geheimsache.html
Amtlich bewilligtes Existenzminimum:
http://haelfte.ch/index.php/newsletter-reader/items/Amtlich_bewilligt.html
Bedingungsloses Grundeinkommen:
http://www.bedingungslos.ch/
Jagdszenen aus Niederbayern:
http://de.wikipedia.org/wiki/Jagdszenen_aus_Niederbayern
http://de.wikipedia.org/wiki/Jagdszenen_aus_Niederbayern_(Film)