



Gesellschaftliche Fortpflanzung mit Care und Arbeit
Paul Ignaz Vogel
Arbeit ist mehr als Produktion von Waren und Dienstleistungen. Sie sollte Teil des Menschseins werden, kann aber zur Würdelosigkeit, Unterdrückung, Ausbeutung führen. Was dagegen zu tun wäre, beschreibt ein Denknetz-Buch.
Mit dem anspruchsvollen Titel „Arbeit ohne Knechtschaft“* stellt das Denknetz eine Bestandesaufnahme und Forderungen rund ums Thema Arbeit vor. Paul Rechsteiner, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, hält in seinem Vorwort fest: „Das Denknetz-Buch stösst eine neue Debatte zur Gegenwart und zur Zukunft der Arbeit an, die über unsere Grenzen – und die Grenzen der Erwerbsarbeit – hinausweist. Diese Debatte ist gerade auch in der schweizerischen Linken bitter nötig.“
Der Neoliberalismus hat in einer ersten Siegesrunde die Gesellschaft individualisiert und damit die Grundlagen zu kollektivem gewerkschaftlichem Handeln empfindlich geschwächt. Ueli Mäder und Hector Schmassmann untersuchen im Denknetz-Buch Prekarisierungsprozesse der Arbeit, der Erwerbslosigkeit, des Lohndumpings, der working poor, der erzwungenen Teilzeitbeschäftigung, der Temporärarbeit und einer Zweiklassengesellschaft in der Arbeitswelt, kurz das Auseinanderklaffen der entlöhnten Produktivformen in einem ersten und einem zweiten Arbeitsmarkt.
Produktion von Leben und von Lebensumwelt
Die Herausgeberin und der Herausgeber des Denknetz-Buches, Ruth Gurny und Ueli Tecklenburg, spuren im Denknetz-Buch ihre Analyse folgerichtig ein, wenn sie zu neuen Ansätzen über die Analyse der Arbeitswelt schreiben: „Ein überwältigend grosser und heute immer noch weitgehend ignorierter Anteil an Arbeit ist unabdingbar und wird immer unabdingbar bleiben; die Sorge- und Versorgungsarbeit an abhängigen Menschen und in privaten Haushalten, die täglich zu leisten ist.“ (S. 9). In erster Linie Hausfrauen- und Hausmännerarbeit also. Gurny und Tecklenburg schlagen in zweiter Linie eine Brücke zum Lebensunterhalt vor, der von einer überwiegenden Mehrheit der Menschen noch durch den klassischen Lohnverdienst oder abhängige Auftragsarbeit erworben werden muss.
Diese Reihenfolge der gesamtgesellschaftlichen Problemsicht entspricht interessanterweise einem analytischen Ansatz, der schon im Buch „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ formuliert wurde. Friedrich Engels schrieb im Vorwort zur ersten Auflage (1884, S. VIII), dass nach seiner materialistischen Auffassung das in letzter Instanz bestimmende Moment die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens sei: „Einerseits der Erzeugung von Lebensmitteln, von Gegenständen der Nahrung, Kleidung, Wohnung und den dazu erforderlichen Werkzeugen; andererseits die Erzeugung von Menschen selbst, die Fortpflanzung der Gattung.“ Engels setzt den Oberbegriff der Produktion ein und untersucht dann die gesellschaftlichen Entwicklungen von sekundären Phänomenen wie Arbeit und Familie. Die Gesellschaft reproduziert sich – und arbeitet.
Crux mit der marktlosen Verteilung
Karl Marx und Friedrich Engels haben die Arbeit in der Klassengesellschaft und ihre Befreiung von Ausbeutung mit der Machbarkeit eines generellen Sozialismus (Kommunismus) vorausgesetzt. Die Geschichte hat uns eines Anderen belehrt. Das staatssozialistische Experiment gipfelte im Menschheitsverbrechen des Stalinismus, und die sozialistische Plan- und Mangelwirtschaft kam nicht vom Fleck. Ihre Produkte wurden bürokratisch verteilt, da vom System her jeder Markt mit dem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage grundsätzlich abgelehnt wurde.
Nach dem Ende der staatssozialistischen Experimente sind andere Produkte- und Dienstleistungs-Verteilsysteme als das Marktprinzip weltweit nur noch sehr schwer vorstellbar. Der Markt entspricht dem zutiefst menschlichen Bedürfnis nach gegenseitigem Austausch. Auch genossenschaftliche Produktionen werden im Markt abgesetzt. Als Erfolg der in antikommunistischer Zeit gross gewordenen sozialen Marktwirtschaft kann die praktizierte Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmern und Gewerkschaften gelten. Sie gipfelt in mühsam errungenen Gesamtarbeitsverträgen (GAV). Diesem realitätsbezogenen Thema hätte sich das Denknetz-Buch mehr zuwenden dürfen, wenn von Lohnarbeit die Rede ist. Denn in den GAV treffen sich gesellschaftliche Bezüge (Gewerkschaften als Korporationen und organisierte Unter-nehmerschaft) mit dem reinen Aushandeln (Feilschen) von ökonomischem Verteilen, die nur mit gegenseitiger Zustimmung erreicht werden. Menschlich ist dies auf jeden Fall.
Ruth Gurny referiert im Denknetz-Buch über Menschenrechte, menschenwürdige Arbeit, den Ansatz zu einem „Decent work“, wie die ILO (Internationale Arbeitsorganisation) vorschreibt. Sie erwähnt auch die Normalarbeitsverträge (NAV), eine schweizerische Mindestvariante der GAVs. Auch Gurny schreibt noch von einer „Umgestaltung der Arbeitswelt“ (S. 284) im Sinne eines ethischen Imperativs „dass alle Menschen gute Arbeit verrichten können und diese Arbeit angemessen auf alle Hände der erwachsenen Bevölkerung verteilt wird.“ (dito) Nun stellt sich die zentrale Frage, wie diese Verteilung gesellschaftlich vollzogen werden soll. Gurny fordert folgerichtig Internationalität für diese Umverteilung zu einer globalen Vollbeschäftigung mit guter Arbeit – aber wie? Geht Gurny immer noch von einer nicht genannten Prämisse aus, irgendeine Instanz könnte die Arbeit gleich einem Manna gerecht verteilen? Die globalen Märkte haben es in sich. Wie lassen sie sich regulieren? Wie kann die Menschheit wieder von ihnen Besitz nehmen und sie zu ihrem Vorteil arbeiten lassen?
Gesellschaftliches Sein mit Care (Pflege)
Als Ökonomin beschreibt Mascha Madörin im Denknetz-Buch einen interessanten Weg, der sie aus dem rein Materiellen in die andere Dimension des Menschlichen führt. Sie folgt dem englischen Begriff „Care“. Er bedeutet das sich Hinwenden (Aufziehen, Pflege, Betreuung) einer Person zu einer anderen – gegen Bezahlung oder auch in Gratisarbeit. Für die gesellschaftliche Fortpflanzung ist die Care-Arbeit von primärer Bedeutung. Etwa zwei Drittel dieser Care-Arbeit wird von Frauen geleistet. Madörin zeigt das immense Problem auf: „Männer intereressiert die Frage wenig. Sie sind es immer noch, welche gesellschaftskritische wie wirtschaftstheoretische Debatten in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens dominieren – auch über die Ressourcen für solche Debatten.“ (S. 132). Wobei die Care-Arbeit in der Schweiz ein riesiges Volumen hat und zum Beispiel allein die Bruttowertschöpfung der Banken übersteigt. Madörin fordert richtigerweise neue Erkenntnisse über Care-Arbeit, die sich die Gesellschaft in aller Breite aneignen sollte: „Es geht um die Interaktion zwischen – meistens zwei – Menschen, es geht um den Dienst an und für einzelne Menschen. Das Persönliche ist auf besondere Weise mit dem Politischen und Ökonomischen verschränkt, entgegen unseren Denkgewohnheiten – gerade wenn es um Politische Ökonomie geht.“ (S.142). Damit hat Madörin „entgegen unseren Denkgewohnheiten“ das Individuum als Prinzip wieder entdeckt, den Ausweg aus dem rein Ökonomischen geschafft. Zuerst sind die Menschen da, auch wenn sie nur Gegenstände des wirtschaftlichen Handelns sind, und dann erst kommt ihre Ökonomie. Und nicht umgekehrt, wie die neoliberalen und dogmatisch-marxistischen Lehren es uns darlegen möchten.
Geschenkte Existenzsicherung
Arbeit soll gut sein, keine Mühsal, keine Unterdrückung, keine Ausbeutung. Nicht nur Arbeit allen zuteilen, sondern den Ertrag, den Lohn gerechter verteilen. Und das Einkommen für alle im Auge behalten, die keine oder nicht genügende Lohnarbeit verrichten können. Die soziale Gerechtigkeit steht zur Debatte. Mit seiner Mindest-Anforderung zur Gratis-Existenzenzsicherung für alle Menschen bietet das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) eine Teilantwort. Freiheit von wirtschaftlichen Zwängen und Entbehrungen. Zuerst ist das Dasein, dann kommt erst die Arbeit. Zuerst lebt der Mensch, dann erst soll er in Freiheit die Arbeit wählen, die ihm zusagt. Auch das Denknetz verschliesst sich nicht mehr dem Diskurs über das BGE und publiziert die Bedingungen an ein Bedingungsloses Grundeinkommen unter dem Titel „Ein BGE muss die Freiheiten aller stärken“. (S 313).
Das Denknetz-Buch findet also Spuren zu einem neuen Weg, zur Rückbesinnung auf ein humanistisches Menschen- und Gesellschaftsbild. Das gilt es, weiter auszubauen. Die Gewerkschaften sind primär eine gesellschaftliche Kraft. Nur so können sie ins Feld der Produktion zurückfinden und zum Wohle ihrer Mitglieder und der ganzen Gesellschaft das Wirtschaftsleben mitgestalten. Zur gesellschaftlichen Fortpflanzung gehört auch der Fortschritt in allem. Aber: Die Menschen müssen als Individuen von den Gewerkschaften mit viel Realitätssinn dort abgeholt werden, wo sie vom Neoliberalismus allein gelassen worden sind. Auch daran sollte gelegentlich das Denknetz arbeiten. Es geht um eine neue Bewusstseinsförderung.
* Arbeit ohne Knechtschaft
Hrsg. Ruth Gurny & Ueli Tecklenburg
edition 8 (ist als Genossenschaft organisiert)
Fr. 29.00, Euro: 22.00
ISBN: 978-3-85990-189-6
Hinweis: Nur Männer im Vorstand des CH-Spitalverbandes
Der Verband H+ ist der Interessenvertreter der Spitäler, Kliniken und Pflegeinstitutionen der Schweiz. Im gegenwärtigen Vorstand von 13 Personen sitzen 13 Männer. Siehe: http://www.hplus.ch/de/servicenav/ueber_uns/vorstand/